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Tschewengur

Die Wanderung mit offenem Herzen

Filmischer Essay nach Andrej Platonow
aus dem Russischen von Renate Reschke
in einer Bearbeitung von Sebastian Baumgarten, Ludwig Haugk und Clara Probs

 

 

Maxim Gorki Theater 

Eine neue Welt bringt eine neue Sprache hervor. Andrej Platonow war lebenslang auf der Suche nach dem anderen Klang. Den Rhythmus für diese Expedition gab ihm die Eisenbahn vor: 1899 als Arbeiterkind im südrussischen Woronesh geboren, musste er früh als Hilfsarbeiter im Lokomotivenwerk arbeiten. Die Revolution ließ ihn Ingenieur werden, einen Träumer der Maschinen und ihrer Möglichkeiten, der an der Revolutionsfront kämpfte und in den Steppenlandschaften des Bürgerkriegs dem Hunger, der Utopie, der Gewalt begegnete.

In dem Roman Tschewengur – Die Wanderung mit offenem Herzen, seinem Hauptwerk, fließen diese Elemente zusammen zu einem Sprachkunstwerk. Seine Perspektive ist die der Elendsten, der Hunger und Dürre preisgegebenen Bauern, der Landlosen und besitzlos Umherstreifenden, jener Menschen also ohne Sprache, Schrift und Geschichte. In ihre an der Schwelle zum Tod gebaute Welt bricht die Maschinisierung und Neuorganisation von unten durch die Revolution. Sie sollen „Subjekte“ werden und eine neue Welt erschaffen, statt die alte zu erdulden. Von der jungen Partei entsandt machen sich zwei extrem unterschiedliche Antihelden auf, in den Weiten der Steppenlandschaft den Kommunismus zu suchen. Sie begegnen einer mythischen Welt aus skurrilen Gestalten, einer Welt, in der die Menschen Teil des Gefüges der Dinge sind und nicht länger Herrscher, in der die Syntax des Zusammenlebens neu gebaut wird. In dem Örtchen Tschewengur, das sie schließlich erreichen, scheint erreicht, wovon alle träumen: das Ende aller Widersprüche.

»In dieser Stunde war vielleicht das Glück selbst auf der Suche nach seinen Glücklichen, die Glücklichen aber ruhten sich von den alltäglichen sozialen Sorgen aus, ohne sich ihrer Verwandtschaft mit dem Glück zu entsinnen.« (Tschewengur)

Wie zwei ihrer Bedeutung beraubte Ausrufungszeichen stehen zwei Betontürme auf dem Gelände eines Gewerbeparks in Lichtenberg: Reste eines Lagerkomplexes des VEB Elektrokohle, heute Räumlichkeiten des Architekturbüros von Arno Brandlhuber. Eine Landschaft aus Beton und Vergessen, Brachenkraut und Künstlichkeit, DDR-Rest und Importindustrie.

Als im Januar klar war, dass die geplante Premiere von Sebastian Baumgartens Bühnenadaption dieses Jahrhundertromans nicht stattfinden wird, konzipierte das Team die Produktion neu und zog vom Gorki um nach Lichtenberg. Hier zwischen Turbokapitalismus, Kunstraum und den Resten sozialistischer Urbanität fand sich Luft für Platonows Sprache. Als filmischer Foto-Essay mit der Musik von Robert Lippok umgesetzt wird die Arbeit nun im September 2021 präsentiert.



KREATIVTEAM

Regie

Sebastian Baumgarten

 

Kamera, Video und Schnitt

Chris Kondek

Musik

Robert Lippok

Dramaturgie

Ludwig Haugk
Clara Probst

Kostüme

Jeanne Louët

BESETZUNG

Jonas Dassler

Aysima Ergün

Tim Freudensprung

Falilou Seck

Çiğdem Teke

Hanh Mai Thi Tran

Till Wonka



Fotos im Hintergrund: Marcus Dallüge, (c) 2021