von Henrik Ibsen
Deutsche Bearbeitung von Hinrich Schmidt-Henkel
Schaubühne am Lehniner Platz Berlin
Die Generalstochter Hedda Gabler hat geheiratet. Ihrem Ehemann, dem aufstrebenden Historiker Jörgen Tesman, winkt eine Professur; er hat sich daraufhin Geld geliehen und eine Villa gekauft, um seiner
anspruchsvollen Frau etwas bieten zu können. Seinen Nebenbuhler, den attraktiveren und begabteren Løvborg, hat Hedda abblitzen lassen. Løvborg, der gerne in berüchtigten Clubs seinen glänzenden
Intellekt mit Drogen betäubte, war finanziell und gesellschaftlich keine aussichtsreiche Perspektive für sie gewesen.
Jetzt kehrt Hedda ernüchtert aus den Flitterwochen zurück und muss erfahren, dass Løvborg mittlerweile sein Lotterleben an den Nagel gehängt hat. Er hat ihre Abwesenheit genutzt, um ein
aufsehenerregendes kulturgeschichtliches Buch zu schreiben. Dessen überwältigendes Echo lässt Tesmans Berufung zum Professor plötzlich mehr als fraglich erscheinen. Hedda zerrinnt ihr Lebensplan
zwischen den Fingern. Gegen ihre Neigung hatte sie sich für ein Leben nach bürgerlichen Prinzipien entschieden.
Als diese Prinzipien nun nicht halten, was sie versprachen, nämlich ökonomische Sorglosigkeit, beginnt sie, sich und ihre Umwelt zu hassen und läuft emotional Amok: Sie verhöhnt hemmungslos ihren
Ehemann, hintergeht ihn mit dem Hausfreund Brack, hintertreibt aus Eifersucht die Verbindung zwischen Løvborg und dem Fräulein Elvsted; sie vernichtet Løvborgs zukunftsweisendes Werk, treibt ihn
zuerst zurück in die Sucht und schließlich in einen Selbstmord »in Schönheit«. Mit erbarmungslos wütender Hellsicht attackiert sie die erdrückende Gutartigkeit, hinter der ihre Mitmenschen
Mittelmaß und Feigheit vor dem Leben verbergen. Manipulation und Lüge sind die Mittel, mit denen sie virtuos innerhalb nur eines Tages und einer Nacht diese von Aufstiegsdenken und Abstiegsangst
dominierte Welt zum Einsturz bringt. Zuletzt wird sie selbst als Teil des Systems zur Zielscheibe ihrer Zerstörungswut:
Sie kann ihr selbstgebautes Gefängnis nicht sprengen, ohne sich selbst zu zerstören. In seinem 1891 am Hoftheater in München uraufgeführten Stück zeigt Ibsen einen Angriff auf das Bürgertum von
innen. Als die weitgehend homogene Klasse von einst, mit ihrem all ihre Angehörigen verbindenden Wertekanon, existiert das Bürgertum heute längst nicht mehr. Paradoxerweise aber finden sich die
bürgerlichen Sehnsüchte und Ängste, die seit dem 19. Jahrhundert Biographien kontrolliert, reguliert und deformiert haben, heute in fast unveränderter Weise wieder – nun aber gleichermaßen in
allen Schichten der Gesellschaft. Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist unser kollektives Leitmotiv geworden. Wir sind wieder reif für die Herausforderung und Zumutung einer Hedda Gabler.